"Guernica"
von Pablo Picasso
1937; Leinwand, 351 x 782 cm. New York, Museum of Modern Art, Leihgabe des Künstlers
Interpretation mit Lichtbildern
von Wiltrud Wößner
(ausgearbeitet März/April 1994)
vorgetragen am 15./16.06.1994
bei den Konzerten "Frieden und Krieg"
des Schweinfurter Kammerchores
unter der Leitung von Thomas Kerzel
Zu Picassos "Guernica"
Bild 1: Gesamtaufnahme
aus dem Museo Nacional Reina Sofia, Madrid Großaufnahme
Wer während der Weltausstellung 1937 den spanischen Pavillon betrat, wurde schockiert von
diesem riesigen, düsteren Gemälde, gemalt von dem damals 56-jährigen spanischen Maler
Pablo Picasso. Das Bild, das nur in den Tönen schwarz, weiß und grau gestaltet ist, hat
fast 8 m Länge und hängt heute in New York im Museum of Modern Art.
Es heißt "Guernica" und trägt damit den Namen einer kleinen, spanischen Stadt,
die im spanischen Bürgerkrieg durch einen Luftangriff vollständig zerstört wurde. Es
war das erste Mal, daß Luftterror gegen ein ziviles Ziel eingesetzt wurde, um den Gegner
zu zermürben. Das Bild ist eine leidenschaftliche Anklage gegen Gewalt und Krieg, unter
dem das Spanien der damaligen Zeit entsetzlich zu leiden hatte. Es ist eine traurige
Tatsache, daß die Bürgerkriege aller Zeiten und Völker die Kriege der Völker
gegeneinander an Grausamkeit und Terror weit übertreffen. Wir wissen das aus dem
revolutionären Frankreich oder Rußland, wir erleben es in unseren Tagen im Krieg im
ehemaligen Jugoslawien.
Picassos Bild ist überzeitlich. Seine Mahnung, seine aufrüttelnde Leidenschaft spricht
heute zu uns vielleicht sogar noch eindringlicher. In den vergangenen sechs Jahrzehnten
gab es unzählige Guernicas. Das Bild könnte auch Coventry, Dresden oder Hiroshima
heißen. Die Liste der vielen namenlosen, zerschossenen und verbrannten kleinen Orte und
Dörfer ist unendlich. Wer wüßte heute noch den Namen Guernica, wenn nicht dieses
weltberühmte Bild diesen Namen trüge.
Versuchen wir hier eine Interpretation. Dazu muß vorweggeschickt werden, daß jede Interpretation etwas persönliches ist. Ein Kunstwerk ist vielschichtig und rührt vielerlei Saiten in uns an. Welche Saite in uns mitschwingt, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Freilich sind manche der Symbole in Picassos' Malerei durch sein künstlerisches Gesamtwerk abgesichert.
Was sehen wir also: Wir sehen zunächst, daß sich das ganze Geschehen in einem angedeuteten, bühnenartigen Innenraum abspielt, der von einer Glühbirne in einem ausgefransten Lampenschirm erhellt wird. Eine zweite Lichtquelle ist dicht daneben eine Dochtlampe, die von rechts her von einem eigenartigen, maskenhaften Wesen mit ausgestrecktem Arm in die Bildmitte hereingestoßen wird.
Bild 2: Dreiecksaufbau
Diese Dochtlampe bildet im Bildaufbau die Spitze eines breit hingelagerten Dreiecks. Die
Bildmitte wird eingenommen von einem sich in unsäglichen Schmerzen windenden Pferd. Am
Boden, zwischen den Pferdehufen liegen Teile eines geschlagenen Kriegers: seine Arme sind
weit ausgebreitet, seine Rechte umklammert ein abgebrochenes Schwert.
Bild 3: Rechte Bildseite
Rechts an der Grenze des Lichtkegels entlang hastet eine Frauengestalt, die dem Licht
ihren Kopf fast gierig entgegenstreckt. Sie scheint dem Verderben entronnen, das rechts
außen die andere Frau ereilt.
Bild 4: Linke Bildseite
Auf der linken Bildseite steht machtvoll mit abgewandtem Kopf ein Stier. Vom schwarzen
Stierkörper eingerahmt schreit eine Frauengestalt ihren Schmerz und ihr Entsetzen steil
nach oben hinaus: sie hält an ihrer Brust ihr totes und zerfetztes Kind.
Bild 5: Stierhaupt
Beginnen wir mit dem Stier. Wir wissen aus Werken im Umfeld des Bildes Guernica, daß
Picasso im Stier oft den General und späteren Diktator Spaniens Francisco Franco
dargestellt hat. In diesem Bild verkörpert der Stier zweifellos die Macht; die Macht, die
den Krieg will und entfacht; der aufgereckte Schweif des Stiers ist wie eine züngelnde
Flamme.
Bild 6: Stier mit Frau
Aber die Macht steht außerhalb des Chaos, sie schaut erst zu, aber dann weg. Picasso malt
die Kopfbewegung des Stiers durch die unterschiedliche Augenstellung: Das rechte Auge
gehört zu einer anderen Kopfposition als das andere, dasselbe gilt für Nüstern und
Maul. Ja, es gibt im Untergrund sogar noch ein drittes Auge und eine Andeutung des Maules.
Der Blick der Augen gleitet in unbestimmte Ferne, obwohl die schreiende, verzweifelte Frau
in unmittelbarer Nähe und wie mir scheint, auch gezielt den Stier anklagt.
Bild 7: Bildmitte
Die Tiersymbolik geht weiter; auch beim leidenden Pferd ist die Aussage aus Parallelwerken
eindeutig: Das Pferd stellt das gequälte Spanien dar; es ist mehrfach durchbohrt und
verwundet und bricht auf dem rechten Vorderbein bereits in die Knie. Trug es vorher den
wehrhaften Caballero, den Ritter, der nun niedergestürzt ist? Dessen Wehrhaftigkeit
erwies sich als hohl, sein Schwert ist zerbrochen und konnte das Elend und das Chaos, das
nun das Land durchtobt, nicht aufhalten. Auch seine Augen sind verrückt, Sinnbild für
die aus den Fugen geratene Welt.
Bild 8: Hastende Frau
Aus den Fugen geraten ist die hastende, zum Lichte starrende Frau, ihre Gliedmaßen sind
verdreht und fast willkürlich aneinandergesetzt. Sie ist bei aller Verletzung fürs erste
noch einmal davongekommen,
Bild 9: Versinkende Frau
während die Frau ganz rechts im Feuer von brennenden Balken schreiend versinkt. Die
Flammen sind angedeutet durch die Dreiecke - drei am Balken, vier an der oberen Bildkante
. Sieben ist die apokalyptische Zahl, die Zahl des nahen Weltendes, dessen verheerender,
weißglühender Feuerschein bereits durch das Fenster sichtbar ist.
Bild 10: Hastende Frau mit Dochtlampe
Warum setzt die hastende Frau alles daran, in das Licht der Dochtlampe zu kommen? Was ist
das für ein Wesen, das durch das Fenster mit soviel Kraft die Lampe hereinstößt und das
Pferd beleuchtet? Wir müssen uns erinnern, daß das Bild für die Weltausstellung gemalt
wurde. Vielleicht soll dieses Wesen die Weltöffentlichkeit darstellen. Ans Licht der
Öffentlichkeit soll gebracht werden, was in Spanien geschieht. Kommt und seht! So geht es
bei uns zu!
Dann bleibt allerdings zu überlegen, warum die hastende Frau und das Wesen von draußen
fast gleiche Gesichter haben! Wir wissen, wie viele benachteiligte, gequälte, verfolgte
Menschen ihre Hoffnung auf die Weltöffentlichkeit setzen. Sagen sie in ihren
Demonstrationen nicht immer, kommt und seht! So geht es bei uns zu! Wir sind genau solche
Menschen wie ihr! Das was uns geschieht, könnte euch genau so treffen; sie appellieren an
die Solidarität der Menschen untereinander. Es gibt keinen Unterschied zwischen drinnen
und draußen.
Bild 11: Hereinstürmendes Wesen
Es gibt andere Interpretationen für diese Gestalt. Andere sehen darin einen
"Racheengel", einen "Kriegsdämon". Für einen Dämon erscheint mir
das Wesen zu harmlos, und bei dem Begriff Racheengel frage ich mich, Rache wofür. Mir
fehlt zu dieser Überlegung der logische Hintergrund. Zur Weltöffentlichkeit paßt die
Anonymität der Darstellung sowie der lange Arm, den man sich ja erhoffte, und - die
relativ bescheidene Lampe. Trotzdem erwarten sich die Gequälten Hilfe, vor allem Hilfe
gegen die Gewalt; es genügt nicht, daß nur die Zeitungen darüber schreiben.
Bild 12: Oberteil des Pferdes mit Dochtlampe
Wir sehen, fast das ganze Fell des Pferdes ist so gestaltet, als sei es aus einer
Zeitungspapiercollage entstanden. Geschrieben wurde im Vorfeld und während des
Bürgerkrieges genug, die halbe Welt beteiligte sich daran: Pamphlete, Manifeste, Artikel,
Romane. Das von Picasso gemalte Licht der Öffentlichkeit löscht die Druckbuchstaben aus.
Nicht Worte sollen gemacht werden, sondern das Töten, Foltern, Quälen soll ein Ende
haben.
Bild 13: Vogel
Symbol für den Tod ist der im Fluge von einem glühenden Splitter getroffene Vogel, auch
er mit ver-rückten Augen, sein zerfetzter Körper verdampft;
Bild 14: Vogel mit Stierkopf
die Rauchwolken umgeben wie Weihrauchschwaden den Kopf des Stieres . Der Tod des Vogels -
vielleicht ist es der Friede? - findet über einem glatten Tisch statt, der sich hinter
dem Stier weit nach hinten in den Hintergrund der Weltbühne erstreckt. Ist es die
Schlachtbank, die den Hintergrund für die Macht bildet?
Bild 15: Blume
Das einzige Hoffnungszeichen dieses Bildes ist eine unversehrte Blume. Sie wächst
bezeichnenderweise heben der Hand des gefällten Kriegers, die das abgebrochene Schwert
noch im Tode umklammert hält. Auch hier ist die Symbolsprache eindeutig: Es kann erst
wieder Leben entstehen, wenn die Kämpfer und Kämpfe aufhören. 0b freilich das Licht der
Öffentlichkeit dazu helfen kann, bleibt unbeantwortet. Immerhin wächst die Blume im
Lichtbereich der Dochtlampe.
Bild 16: Gesamtaufnahme
Ich lese einige Verse aus dem Buch Hiob im 5.Kapitel:
Den Narren tötet der eigene Unmut,
der Eifer bringt den Unverständigen um.
Denn das Unheil kommt nicht aus dem Staub,
das Leid entwächst nicht der Erde,
sondern der Mensch ist's, der Leid erzeugt,
der die Funken emportreibt.
© Wiltrud Wößner 1994
Kontakt zur Autorin über Thomas Kerzel, den
damaligen Leiter des Schweinfurter Kammerchores
Lichtbildervortrag von Wiltrud Wößner über "Bethlehemitischer Kindermord" von
Pieter Brueghel
Im Herbst hat Wiltrud Wößner aus Anlaß der Eröffnung des Museums Georg Schäfer zwei Bilder von Carl Spitzweg interpretiert.
Eine weitere, sehr ausführliche und sehr empfehlenswerte Interpretation zu
Guernica
mit Skizzen und Entwürfen Picassos findet man bei http://pferdezeitung.com/Galerie/113/Gesamttext/
Homepage des Schweinfurter Kammerchores (wenn Sie nicht von dort gekommen sind),
auf dessen CD "Frieden und Krieg" sich der
Diavortrag bezieht:
http://www.kerzel.de